"Ein Parlament? Nur das nicht!" - das sagte mir vor Jahren ein damaliger Arbeitskollege. Dieser hatte sich ein zweites berufliches Standbein zugelegt. Er war, neben seiner Tätigkeit im Verlagswesen, in die Gemeindepolitik eingestiegen. Zunächst als nebenamtlicher Präsident einer kleineren Gemeinde in einem Ostschweizer Kanton; dann wurde er zum vollamtlichen Präsidenten einer schon etwas grösseren Gemeinde gewählt (in die er erst nach seiner Wahl zog); wenige Jahre später schon wählte ihn das Stimmvolk einer Stadt, die einiges grösser ist als Langenthal, zum Stadtpräsidenten, worauf die nächste Züglete folgte. Andere Kantone, andere Sitten.
In dieser Stadt nun regierte er an der Spitze des siebenköpfigen Gemeinderats (er sowie die Ressortleiter Bau und Schule im Vollamt), von keinem Parlament kontrolliert, was der liebe Kollege eben sehr schätzte. "Die würden mir nur dreinreden", erklärte er unter Schaudern bei einem Mittagessen in der Kantine, als er bereits in der Stadt von gegen 30'000 Einwohnern in Amt und Würden stand, gelegentlich jedoch noch im alten Geschäft in Zürich vorbei schaute. Ich erklärte ihm, wie das hierzulande, in Langenthal, so funktioniert, was er mit stillem Lächeln und Kopfschütteln quittierte; sowas sei völlig ineffizient, mühsam, verlangsame und verteuere alles. Schliesslich, so wandte er ein, würden in seiner Stadt Gemeindeversammlungen durchgeführt, das reiche demokratiepolitisch vollauf.
Hinterher wäre mein früherer Kollege vielleicht um die Instanz eines Parlaments froh gewesen. Womöglich hätte er sich in einem solchen breiter aufgestellten institutionellen Umfeld halten können - so aber, als Nahezu-Alleinherrscher, war er entsprechend schutzarm exponiert. Lokale Strippenzieher schossen ihn wegen irgendeiner Lokalposse mittels einer Medienkampagne ab. Nun ist der nimmermüde ex-Kollege Präsident einer kleinen Gemeinde, seiner vierten.
Ein interessanter Fall. Er zeigt, wie Berufspolitiker "ticken". Macher, politische oder unternehmerische Manager, mögen's nicht, wenn man ihnen ins Handwerk pfuscht, so sind sie nun mal, die Alphatiere. Grundsätzlich ist das als menschlich-allzumenschlich hinzunehmen, bloss ist eine politische Gemeinde kein Privatunternehmen im Besitz einer Einzelperson, sondern quasi eine Publikumsgesellschaft: Bei einer börsenkotierten AG entspricht die Generalversammlung der Gemeindeversammlung, der Verwaltungsrat dem Stadtrat, die Geschäftsleitung dem Gemeinderat. Um die Analogie weiterzutreiben: Der Gemeinderat, in Langenthal wie anderswo, braucht die Aufsicht durch den Stadtrat genauso wie die Manager sich vom Verwaltungsrat überwachen lassen müssen. Der frühere Chef eines grossen Industriekonzerns sagte mir einst, vor dem Verwaltungsrat anzutreten sei für ihn "full contact sport" - da gehe es hart zur Sache. Gut so, denn dann, und nur dann, erfüllen die Gremien ihre Funktion.
In der Stadtverfassung steht u.a. dies, Artikel 58: "Der Stadtrat führt die Oberaufsicht über den Gemeinderat und über andere Träger öffentlicher Aufgaben aus, soweit diese mit der Erfüllung städtischer Aufgaben betraut sind und der Gemeinderat entsprechende Aufsichtsrechte wahrzunehmen hat. Er hat alle Sachgeschäfte vorzubereiten, die dem Entscheid der Gesamtheit der in Gemeindeangelegenheiten Stimmberechtigten unterliegen. Er erlässt die Botschaften an die Stimmberechtigten und bestimmt den Wortlaut der Anträge. Mehrheits- und Minderheitsstandpunkte im Stadtrat sind gesondert darzustellen. Er beschliesst über alle Angelegenheiten, welche die Zuständigkeit des Gemeinderates übersteigen und nicht ausdrücklich der Gesamtheit der in Gemeindeangelegenheiten Stimmberechtigten vorbehalten sind."
Das ist es, was mit Gewaltentrennung gemeint ist, das ist es, was Vordenker der Demokratie wie Montesquieu und Locke uns mitgegeben haben. Leider wird diesem unabdingbaren Prinzip manchenorts höchst fragwürdig nachgelebt, siehe zum Beispiel deutscher Bundestag, wo im Grunde Gewaltenverschränkung praktiziert wird (und die Mitglieder der Regierung zugleich Mitglieder des Parlaments sind, von dem sie gewählt werden): Die Regierungsfraktionen sind die Hilfstruppen des Kabinetts.
Doch nur wenn, im Rahmen der Gewaltenteilung, die Legislative ihre Aufgaben selbstbewusst erfüllt und u.a. die Exekutive ernsthaft kontrolliert, nimmt sie ihre Pflichten wahr, nur so wird sie ihrem Namen gerecht. Ist ein Stadtparlament, oder überhaupt ein Parlament, jedoch bloss ein akklamierendes, oberflächlich beglaubigendes Abnickergremium statt ein aktiv und initiativ gestaltendes Organ, dann ist es in der Tat überflüssig. Wenn es zu bequem ist, um unbequem zu sein, wenn es also handzahm ausführt, was ihm die Exekutive und, schlimmer noch, die (nicht gewählte) Verwaltung suggerieren, dann ist es wirklich bloss teures Dekor.
Deshalb können wir Langenthaler Liberalen es als Bestätigung auffassen, dass wir offenkundig etwas richtig machen, wenn man uns in anderen Lagern nicht selten als aufsässig, als lästig, als pingelige Nervensägen empfindet.